Dramaturgie







"Die Unterrichtsstunde"


von Eugène Ionesco



Zum Autor:


IONESCO, Eugène: (mit rumänischem Namen Eugen Ionescu), Schriftsteller und in den letzten Jahren seines Lebens auch Maler

  • *1909 in Slatina, Rumänien, als Sohn des rumänischen Rechtsanwalts Eugen Ionescu und der Französin jüdischer Herkunft Thérèse Icard

  • †1994 in Paris



  • Nach der Trennung seiner Eltern lebt I. ab 1913 mit seiner Mutter und der jüngeren Schwester in Paris, und zwischen 1921 und 1924 in La Chapelle-Anthenaise (Mayenne)

  • Im Jahre 1925 zieht er auf Wunsch seines Vaters nach Rumänien, wo er das Gymnasium "Sfântul Sava" in Bukarest besucht und an einem Gymnasium in Craiova sein Abitur macht

  • Mit einem Diplom der französischen Sprache und Literatur beschließt er 1929 sein Studium an der Universität Bukarest

  • Ionescos literarisches Debüt erfolgt 1928 in der Zeitschrift "Bilete de Papagal" mit Gedichten.

  • Es folgen zahlreiche essayistische und literaturkritische Veröffentlichungen in diversen Bukarester Zeitschriften.

  • 1931 erscheint Ionescos erster Gedichtband" Elegii pentru fiin mici"

  • 1934 sein erster Essayband "Nu", für das ihm der Literaturpreis der "Stiftung König Carol" verliehen wird

  • Im Jahr 1936 heiratet Ionesco die Philosophiestudentin Rodica Burileanu

  • Er arbeitet als Gymnasiallehrer in Cernavod× und 1937 für kurze Zeit als Französischlehrer am Bukarester Gymnasium "Sfântul Sava"

  • 1938 erhält er für sein Dissertationsprojekt "Das Thema der Sünde und des Todes in der französischen Lyrik nach Baudelaire" ein Stipendium der französischen Regierung und fährt nach Paris, von wo aus er weitere Artikel für rumänische Zeitschriften verfasst

  • Nach einem kurzen, wegen des um sich greifenden Faschismus spannungsreichen Aufenthalts in Rumänien emmigriert er 1942 nach Frankreich

  • 1944 wird seine Tochter Marie-France geboren. Während der deutschen Okkupation geht Ionesco mit seiner Familie nach Marseille, wo er an den "Cahiers du Sud" arbeitet

  • Nach dem Krieg bestreitet er seinen Lebensunterhalt als Korrektor in einem Verlag für Verwaltungspublikationen in Paris

  • Im Jahre 1945 findet unter der Regie von Nicolas Bataille die Uraufführung seines ersten Theaterstücks "La cantatrice chauve" statt, das Ionesco nach anfänglichem Mißerfolg zu einem der berühmtesten Avantgarde-Autoren des Nachkriegstheaters macht

  • Es folgen zahlreiche weitere Stücke, Erzählungen, Romane, Artikel und Essays, die vielfach übersetzt und weltweit aufgeführt werden

  • 1959 nimmt Ionesco am Helsinkier "Colloquium über das Theater der Avantgarde" teil, und wird 1971 zum Mitglied der "Académie Française" ernannt

  • Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit malt und übernimmt er auch einige Theater- und Filmrollen."

  • (Zitiert aus: Bioraphisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band XVIII (2001), Spalten 695-703, Autor: Sigrid Irimia-Tuchtenhagen)


    Zum Stück:

    20. Februar 1951: Uraufführung von "La Leçon" (Die Unterrichtsstunde) im Théâtre de Poche-Montparnasse. Die meisten Inszenierungen nehmen das Stück "wörtlich" auf der "ersten Ebene".

    So heisst es z.B. von einer solchen Inszenierung:
    "Je mehr seine sexuell getönte Mordlust zunimmt, desto mehr verfällt Eigenleben und Widerstandskraft der Schülerin: Tonlos, apathisch und betäubt vor Angst wird sie zum willenlosen Instrument in den Händen ihrer Professors.  Besessen von der Macht seiner labyrinthisch-abstrusen Rede ersticht der Professor die Schülerin schließlich. Damit nimmt er sie endgültig in seinen Besitz und vernichtet ihre Persönlichkeit und ihre Widerspruchsfähigkeit: die Unterrichtsstunde ist zu Ende." (Horizonttheater) 

    In einer deutschen Zeitung hiess es zu diesem Stück nach einer Aufführung in Berlin 2003, dass es um die Lust an der macht auf Kosten der Ohnmächtigen gehe, dass der Professor Unwissen demütigen wolle etc. (Berliner Zeitung, 13.3.2003)

    In der New York Times hiess es u.a. in einer Theaterkritik von Charles Isherwood am 20.09.2004:
    "It's when the professor turns to language, in a series of increasingly nonsensical monologues about the family of tongues said to derive from the "neo-Spanish," that his sadistic instincts begin to emerge. His furious insistence on his pupil's obedience becomes more rigid, even as his speeches about speech lose all semblance of logic, and the play concludes with an explosion of violence that stills laughter for good. 
    "The Lesson," like "The Bald Soprano," could easily be seen by the politically minded as a grim cautionary tale for today. Beneath the preposterous comic surfaces, Ionesco makes unsettling connections between the corruption of means of communication and the unleashing of man's basest, most violent instincts. He seems to suggest that the destruction of language leads inexorably to the destruction of life. Given the current standards of the country's political discourse, the implications of that particular lesson are almost too gruesome to ponder.


    Hier wird der Sprachaspekt, die (magische) Gewalt der Sprache deutlicher angesprochen.

    In einem Gespräch mit dem Autor (1964) fragte Francois Bondy zur "Unterrichtsstunde": "Sind Sie etwa auch der Professor, der seine Schülerinnen reihenweise ersticht?"  Ionesco: "Natürlich. Gerade in ihm finde ich mich. Er ist ja ein falscher, ein scheinbarer Henker. Ihm gelingt nicht einmal eine Vergewaltigung. Es bleibt beim Träumen eines erotischen Abenteuers aber die Gouvernante unterbricht ihn dabei unentwegt. Trotzdem ist die "Unterrichtsstunde" mein objektivstes Stück. Es kommt, so scheint mir, einem reinen Blick auf die Dinge am nächsten."
    (In: Francois Bondy: Gespräche. Wien, Europaverlag 1972)

    Was ist der "reine Blick auf die Dinge"? Es ist die Wahrnehmung und Erkenntnis der scheinbar absurden Gegebenheit, es ist das Staunen und die Erschütterung der schieren Verständigungsunmöglichkeit. In vielen Bemerkungen hat Ionesco betont, dass er die Spiesser, die Kleinbürger nicht als einheitlichen Klassenteil sieht, sondern als universell, in allen Gesellschaften daheim: es sind jene, die nicht selber denken, die keine eigene Sprache gefunden haben, die schwätzen in billigen Übernahmen von Klischees, Stereotypen, und deshalb sich meist in Vorurteilen gefangen halten. Das herrscht bei Linken wie Rechten, im Westen wie im Osten.

    Schon mit seinem ersten Stück "Die kahle Sängerin" demonstrierte er dieses sein Unbehagen, seine Art Staunen; er erzählte später, wie er ganz banal dazu gekommen war. Die Darstellung der Alltagsbanalität, die dennoch Tiefen birgt, ist eines seiner Anliegen. Während andere Autoren ähnliche Probleme in hochstilisierter Form, höchst komprimiert ausdrückten und schliffen, man denke nur an Hofmannsthals "Brief des Lord Chandos", an Symbolisten wie Mallarmé, an Hermann Broch oder, um einen Antipoden, der dennoch dem Thema anverwandt ist, zu nennen, Karl Kraus, war es Ionesco ein Anlagen, keine zusammenhängende Botschaft zu vermitteln, sondern den Gegenwartszustand simpel aufzuzeigen. Deshalb kam er zum Theater, zu seinem dramatischen Schaffen, weil er darin die grösste Freiheit fand, anders als im Essay oder im Roman.

    Was Kafka beklemmend in einer eigentümlichen Alltagssprache ausdrückte über die Schuld und Schuldigkeit, über das Absurde, findet sich in anderer Konstruktion bei Ionesco; kein Wunder, dass er vom Autor Kafka so angetan war.

    Ionesco hatte früh gelernt, Kollektivwahrheiten, den "ismen", zu misstrauen. Deshalb sprach er sich auch gegen den Realismus, nicht nur den sozialistischen, aus und sah wenig Sinn im Lehrtheater, weil er es Ideologien verpflichtet wusste und nicht authentischer Kunst.

    Die Frage für uns Heutige bleibt, was uns so ein Stück von Ionesco nach sagt bzw. sagen kann. Er ist mit Samuel Beckett der bestbekannt und immer noch aufgeführte Autor des absurden Theaters. Wenn man sensibel genug ist, nicht am Klamaukhaften der absurden Konstellation und typisierter Geschichte hängen zu bleiben, entdeckt man jenen Hintergrund des Staunens, jene Tiefe von Humanität, die Eugène Ionesco zeitlebens trieb und aufrecht hielt.

    Ionesco in seinem Tagebuch, 1o. April 1951:

    Das Theater (oder was sich so nennt) demontieren.
    (Enthalten in "Argumente und Argumente")

    Die kahle Sängerin genausogut wie Die Unterrichtsstunde: Versuche (unter anderen), den Mechanismus des Theaters zu verselbständigen. Versuch eines abstrakten oder gegenstandslosen Theaters. Oder im Gegenteil, wenn man will, eines konkreten Theaters. Es ist nur das, was man auf der Bühne sieht. Da entsteht es. Es ist Spiel, Wortspiel, szenisches Spiel, Bilderfolge und Konkretisierung von Symbolen. Sein Material also: nicht-figurative Figuren. jede Intrige ist uninteressant. Jede besondere Handlung. Sie kann zusätzlich vorkommen. Sie soll nur Träger der dramatischen Spannung sein, ihre Stütze, ihre Stufe und ihre Zäsur. Es soweit bringen, die dramatische Spannung frei, ohne jegliche wirkliche Handlung sich entfalten zu lassen. Ohne jeden besonderen Gegenstand. Trotzdem wird etwas Ungeheuerliches zum Vorschein kommen. Was auch nötig ist, denn schließlich ist das Theater die Enthüllung von Ungeheuerlichkeiten oder ungeheuerlichen figurenlosen Zuständen oder von ungeheuerlichen Figuren, die wir in uns tragen. Diese Überhöhung oder diese Enthüllungen ohne Motivierung erreichen. Die Rechtfertigung eines Themas oder Stoffes wäre ideologisch, also falsch und verlogen.

    Entwicklung einer gegenstandslosen Leidenschaft. Ein Aufbau, der um so einfacher, dramatischer, glänzender ist, als ihn nicht irgendein Gegenstand oder offenkundiger Inhalt (die uns den eigentlichen Inhalt verbergen) belasten. Der vordergründige Sinn einer dramatischen Handlung verbirgt die wesentliche Bedeutung des Aufbaus. Abstraktes Theater. Reines Drama. Anti?thematisch, antiideologisch, anti-realistisch-sozialistisch, anti-philosophisch, anti?-boulevardpsychologisch, anti-bürgerlich. Wiederentdeckung eines neuen freien Theaters. Frei, d. h. befreit. D. h. ohne Vorurteil. Mittel der Entdeckung. Nur das freie Theater kann ehrlich und genau sein und die verborgenen Wahrheiten zum Vorschein bringen.

    "In der 'Unterrichtsstunde' ist es ein Überborden der Sprache. Das Komische ist erschreckend, das Komische ist tragisch."
    Eugène Ionesco: Bekenntnisse

    "Stücke wie 'Die Unterrichtstunde' sind klassisch konstruiert. Sie haben ein Anfangsthema, eine einfache Entwicklung. Für die 'Unterrichtsstunde' wollte ich eine steigende Kurve aufzeichnen, vorsichtig anfangen und bis zur Exaltation des Lehrers kommen, dann zum brutalen Sturz."
    Eugène Ionesco: Bekenntnisse