Dramaturgie







"Die Verwandlung"


nach Franz Kafka


...alle handelnden Personen (Erzähler, Gregor Samsa, Vater, Mutter, Schwester, Prokurist, Bedienerin) werden von Ip Wischin gespielt.
 
Regie & Ausstattung: Geirun Tino

An die 300 mal haben wir die "Verwandlung" von Franz Kafka schon im In- und Ausland gespielt. Die Nachfrage ist so groß, dass wir das Stück einfach nicht vom Spielplan nehmen können. Daher haben wir die "Verwandlung" im Theater Pygmalion zur fixen Einrichtung gemacht. Ip Wischin, ausgezeichnet als bester Schauspieler des Jahres 2000 bei den Wiener Bezirksfestwochen, lässt in dieser Solo-Tour-de-force die Welt der Insekten und des kafkaesken Familienidylls mit vollem Stimm- und Körpereinsatz vor unseren Augen plastisch entstehen. Kafka - auch zum Lachen! Ein literarisches Sakrileg? Sehen Sie selbst!
 

Projekt Kafka - auf den Spuren des neuzeitlichen Mythos
Theater - die pure Zuspitzung und Stilisierung der menschlichen Befindlichkeit - legt frei, macht erlebbar und fühlbar, was zeitlos ist und für mehr als nur einen Kulturkreis gilt. Diesem primordialen Theaterverständnis fühlt sich das Pygmalion Theater verpflichtet. Wir beschreiten einen Menschheitsweg entlang der Meilensteine dramatischer Literatur und langen im 20. Jahrhundert unausweichlich bei Kafka an. Sein, als Gregor Samsa titulierter Protagonist, stellt wie sein Josef K. im "Prozess" den Mythos in seiner modernsten Form dar. Das Trauma des modernen Menschen hat in nichts so sehr eine Verkörperung gefunden, wie in dieser Figur, die unter anderen Namen im Gesamtwerk Kafkas immer wieder zu finden ist. Wir sehen es als unsere Aufgabe, alle möglichen Facetten dieses Mythos auf die Bühne zu bringen, um es dem Publikum zu ermöglichen, sich in immer neuen Blickwinkeln damit auseinander zu setzen. Denn Kafka hat Substanz und ist zugleich ungreifbar. Aus der Summe scheinbar banaler, sachlicher Beschreibungen erhebt sich zuletzt wie ein Umspringbild eine Gestalt in den Vordergrund, die sich trotz ihrer massiven Erscheinung der Kontrolle durch den Geist und Hausverstand entzieht. Es ist dies der zu einem Mythos geronnene Modul unserer menschlich-existenziellen Befindlichkeit. Keine Antigone der Neuzeit vermag die kritischen Barrieren des Rezipienten so subtil zu durchdringen wie der, in Ausweglosigkeit verstrickte Held bei Kafka. Hält man das bei Kafka Gesagte auf Distanz, so hat sich das Angedeutete schon eingeschlichen. Was wir jetzt noch möglicherweise sagten, um Kafkas Werk zu loben oder zu schelten: wir tun es schon anders, nämlich mit der Sprache des, in die Unsicherheit Getriebenen. Anders gesagt: der Mythos trifft. Kafka hat ihn wie ein Besessener gestaltet. Nun lassen wir, als sei das Theater ein Versuchslabor, die Schauspieler alle Schritte von Kafkas Helden nachvollziehen. Vor dem Publikum erschaffen wir Räume, in denen die Verlorenheit der kafka'schen Protagonisten demonstriert wird. Vor unseren Augen zerbrechen Welten - und uns bleibt kein Mittel als die bittere Reflexion, um uns unsere gesellschaftlich normierte Zuversicht zu bewahren.
 

Zur Person Kafka
Der 1883 geborene Dichter aus Prag, der 1924 in Wien/Umgebung verstarb, ist die prominenteste Literaturikone der Neuzeit. Zu seinen Lebzeiten gelangte nur ein Bruchteil seiner Schriften an die Öffentlichkeit. Der heitere Kinogeher und gewissenhafte Versicherungsangestellte schrieb wie ein Besessener. Seinen ersten Roman "Das Urteil" schrieb er in nur einer Nacht. Seine zum Teil fragmentarischen Werke "Der Prozess", "Das Schloss", "Bericht für eine Akademie", "Amerika" und "Die Verwandlung" hat das Theater Pygmalion im Laufe der letzten Jahre dramatisiert und mit großem Erfolg auf die Bühne gebracht. Es handelt sich um Meilensteine der Literatur, um Werke, die der Dichter testamentarisch dem Feuer überantwortet gesehen haben wollte. Ein Wille, dem sich die Nachwelt widersetzen musste.
 

Dem Käfer auf der Spur
Eines Tages erwacht jemand in seinem Bett und findet, dass er sich in einen Käfer verwandelt hat. - Na und? "Auf dieses na und? gibt es keine vernünftige Antwort," schreibt der bekannte Schriftsteller Vladimir Nabokov in seinem Essay über "Die Verwandlung". Die Abenteuer des Gregor Samsa berühren uns und bewahren dabei dennoch ein Geheimnis, das jeder Analyse standhält. Gibt es eine Definition für Kunst? Nabokov sagt, die Formel "Schönheit + Mitgefühl" komme am ehesten an so eine Definition heran. Aber vielleicht wollte es uns Kafka ja besonders schwer machen, diese beiden Komponenten zu entdecken. Ein Käfer ist weder schön, noch dazu angetan, unser Mitgefühl zu wecken. Wie sieht dieser Käfer denn aus? Es gibt Quellen, die behaupten, Kafka habe an eine Küchenschabe gedacht. Er habe jedoch gegenüber dem Verlag darauf bestanden, keine Abbildung eines Käfers bei der Veröffentlichung dieser Erzählung zu verwenden.

Einer der bekanntesten japanischen Romane heißt "Ich bin eine Katze", 1905 von Kafkas Zeitgenossen Soseki Natsume geschrieben, in dem die Eigenheiten der Gesellschaft aus der Sicht eines Außenstehenden - eines Tieres - beschrieben werden. Bei Kafka findet aber genau das Gegenteil statt. Kein anmutiges Tier betrachtet hier die Menschen mit Verwunderung. Nein, ein Mensch betrachtet hier sich selbst und findet sich als Tier wieder... als das niedrigste aller Tiere. Während man einer Spinne neben dem Ekel auch noch Furcht, ja, Ehrfurcht entgegenbringt, ist die Küchenschabe, oder eigentlich das "Ungeziefer" wie es in der Erzählung heißt, ausschließlich zur Vertilgung, zum Zertreten-werden da. Aber welch seltsame Anatomie besitzt dieser Käfer. Die Anzahl der Beine wird nie anders beschrieben als mittels des Attributes "viele", so als wäre Gregor eine Art Tausendfüßler. Seine Augen tränen beim Verzehr der Speisen. Das klingt nicht nach Insektenaugen. Fühler hat er - und er versteht sie sogar zu nutzen. Sein Panzer aber ist ausgesprochen porös: ein geworfener Apfel vermag ihn bereits zu durchdringen. Ebenso seltsam wie der Körperbau des Insekts, ist der Grundriss der Wohnung der Samsas. Vater, Mutter und Schwester stehen jeweils an einer anderen Tür zu Gregors Zimmer und verständigen sich, indem sie durch das Zimmer hindurch rufen. Das verleiht diesem Raum den Charakter eines Zentrums. Gregor wohnt im Herzstück der Wohnung. Wenn der Vater aber mit der Mutter spricht ruft er durch das Vorzimmer in die Küche, die also keiner der drei angrenzenden Räume sein kann, wenngleich sich die Mutter darin zu befinden scheint. Die vierte Wand hat ein Fenster, ein trübes Auge in die Welt. Gregor ist in seinem Zimmer ebenso gefangen, wie in seinem Chitinpanzer.

Vielleicht - und dieses Szenario unterstützt die Inszenierung im Theater Pygmalion - ist Gregor ja bloß ein Verrückter, dessen Wahrnehmung unter dem enomen Druck seiner Pflichten gegenüber der Familie eines Tages irgendwie gekippt ist. Gregor hat ab dem Moment seiner Verwandlung, wie es in der Erzählung heißt, keine Verantwortung mehr. Er macht das, was viele sogenannte Schizophräne tun: er verweigert die Kommunikation, nicht indem er schweigt, denn auch das wäre ja als Aussage zu werten, nein, sondern indem er das Element des Absurden in die Kommunikation einführt. Aus psychologischer Sicht ein veritabler Lösungsversuch für ein Problem, das ohne Hilfe eines Außenstehenden wohl unentwirrbar anmutet. Und da ist ja schon der Kern der Problematik: während die Familie Samsa im eigenen Saft schmort, den Gregor scheinbar stets im Alleingang auszulöffeln die Pflicht hat, wirken alle Personen, die eingreifen könnten, seltsam teilnahmslos. Die ungeheure Tragödie, die sich da vor aller Augen abspielt, wird mit zuckender Schulter wahrgenommen. Der Prokurist, die Bedienerin, die Untermieter - alle stehen dem Phänomen völlig hilflos gegenüber.
Wie aus seinem berühmten Brief an den Vater hervorgeht, hat Franz Kafka sich stets für seinen schmächtigen Körperbau sehr geschämt. Mag sein, dass er die scheinbar abwertenden Blicke der Menschen, dass er ihre Kälte auch auf sein zuwenig imponierendes Äußeres zurückgeführt hat. Mag sein, dass er das Gefühl hatte, auch körperlich abstoßend zu sein. Minderwertig - besonders seinem Vater gegenüber - fühlte er sich in dieser Hinsicht, weswegen er sich etwa nur ungern im Badeanzug zeigte. Vielleicht wollte Kafka auch diesem Gefühl in seiner höchsten Zuspitzung Ausdruck verleihen.



Die Verwandlung - kleine literarische Analyse:
Joseph Campbell, der große amerikanische Literaturforscher, hat die großen Mythen der Menschheitsgeschichte vom Gilgamesch-Epos bis hin zu James Joyce untersucht und das Gemeinsame aller Heldenabenteuer aber auch aller Schöpfungsmythen aus aller Welt auf den Punkt gebracht. Und es kommt wohl nicht von Ungefähr, dass sämtliche Elemente des Weltmythos sich in der Geschichte um Gregor Samsa wiederfinden. Ein Held wird berufen; nach anfänglicher Weigerung nimmt er die Herausforderung an, er überschreitet die Schwelle zur jenseitigen Welt, begegnet dem verführerischen Weib, er erhält das Elexier, das ihm übernatürliche Kräfte verleiht, kehrt zurück, versöhnt sich mit dem Vater, es kommt zur Apotheose und schließlich zur Erlösung. Bei Kafka will der Held zunächst seine Verwandlung als Traum abtun. Dann aber nimmt er die Herausforderung an. Mittels eines Schlüssels (wichtiges Requisit aller Mythen) öffnet er die Pforte und gibt sich somit der Welt als Käfer zu erkennen (Schwellenüberschreitung). Die Schwester übernimmt in der Erzählung eine sehr zwiespältige Rolle. Ihre Fürsorglichkeit wandelt sich alsbald in Teilnahmslosigkeit gegen den armen Bruder. Der Apfel in Gregors Rücken wird zum Elixier, das die Versöhnung mit dem Vater herbeiführt. Denn nun darf er den abendlichen Familiensitzungen im Wohnzimmer beiwohnen. Gregors Tod, der sich "wie es sich für einen Heroen gehört" völlig angstfrei vollzieht, steht für die Apotheose. Die Familie ist erlöst. Die Schwester streckt sich glücklich im Gefühl der Befreiung.

Ein wichtiges Mittel zum entschlüsseln literarischer Werke ist die Feststellung, welchen Erzählschnitt der Autor gewählt hat. In der experimentellen Wissenschaft schneidet man gern die Gegenstände der Untersuchung in dünne Scheiben, die über das Innere des Gegenstandes Auskunft zu geben haben. Nichts anderes macht der Autor einer Erzählung mit seinem Stoff. Man hätte die Geschichte der Familie Samsa auch erzählen können, indem man z.B. Haare zum Mittelpunkt der Handlung macht: Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sein Kopfkissen über und über mit Haaren bedeckt. Er betastete, wie im Reflex, sein Haupt und erschrak, als er nichts als kahle Haut ertastete. Lediglich ein einziges, allerdings überraschend langes Härchen hatte sich unweit seiner Augenbrauen, die im Übrigen wie eh und je hartnäckig an ihrem Platze waren, erhalten. "Gregor, ich bringe dir dein Frühstück!" hörte er schon die Mutter an der Tür, die ja doch keinesfalls dieser schändlichen Veränderung ansichtig werden durfte. "Stell es mir nur in der Küche hin. Ich komme gleich!" antwortete er hastig, um sich sogleich einen Plan für sein weiteres Vorgehen zurechtzulegen. "Das Büro!" fiel es ihm schlagartig ein. Hatte sein Chef nicht immer mit Respekt, ja vielleicht sogar, wie es Gregor schien, ein wenig Neid auf Gregors wallende Haarpracht geschielt? "Hätte ich nur nicht so mit meinen Haaren angegeben!" durchfuhr es Gregor nun, während er sich im Spiegel betrachtete. Und so weiter und so fort.

Betrachten wir doch einmal Gregors Zimmer im Moment seines Erwachens. Stellen wir es uns als 3D-Bild vor, das wir auf unserem Computermonitor hin- und her bewegen können. Schauen wir einmal, wo wir unser virtuelles Messer ansetzen können, um den Erzählschnitt zu machen. Da ist ein Bild, das Gregor aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und in einem vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellt eine Dame dar, die einen Pelz trägt - wie die Venus von Leopold von Sacher-Masoch, dem Namensgeber des Masochismus. Das Bild wirkt wie ein virtuelles Fenster, durch das der Gegenstand der Sehnsüchte zu Gregor hereinblickt. Das richtige Fenster indessen bietet nur trübe, verregnete Aussichten. So könnte man also an den Stellen "Dame" oder "Fenster" das Messer ansetzen. Im ersten Fall wird unsere Geschichte eine nicht besonders ungewöhnliche Beschreibung einer erotischen Sehnsucht sein, deren literarischer Wert vermutlich nicht über den der Werke des Sacher-Masoch hinausginge. In zweiterem Falle würde sich alles um Gregors Überlegungen drehen, wie er seiner Situation durch einen Fenstersprung ein Ende machen könnte. Auch das wäre keine sehr ungewöhnliche Geschichte. Also nehmen wir das Zoom-Werkzeug, um uns unser 3D-Bild etwas näher anzusehen: Bettfedern, Tücher, Gregors linkes Ohr, seine Nase... Halt! - einen Moment: Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, stellte er fest, dass in seinem Gesicht, dort wo früher seine Nase war, nun leider nur noch eine flache, glatte Fläche ertastet werden konnte. Na, kommt uns das nicht bekannt vor? Ja! Diese Erzählung gibt es ja tatsächlich. Es handelt sich um Nikolai Gogols "Die Nase". Der Held heißt dort natürlich nicht Samsa sondern Kowaljow, aber es ist die Beschreibung der selben Szene: ein ungeheures Erwachen - aber eben ein anderer Erzählschnitt. Gogols Nase ist ja tatsächlich ein sehr originelles Werk, aber geht es nicht noch - wie soll man sagen? - ungewöhnlicher?

Wenn wir also unsere Arbeit mit dem Zoom-Werkzeug lange genug fortsetzen, gelangen wir irgendwann einmal an einen winzigen dunklen Fleck in einer Ecke des Zimmers. Er besteht nur aus ein paar Pixeln und wir können nur erahnen, was es ist. Unser Zoom-Werkzeug ist bis an sein Auflösungslimit gegangen. Es ist fast wie in einem David Lynch-Film. Dieser winzige Fleck... könnte das ein Ungeziefer sein? Hier! - Und gerade hier! setzt Kafka sein Messer an. Kakfa sagt damit etwas über seine persönliche Weltsicht aus, er eröffnet uns seine Perspektive. Wenn er das Zimmer des Gregor Samsa betrachtet, so richtet er seinen Blick auf den schäbigsten, unscheinbarsten, ekelhaftesten Punkt. Gogol hätte sich wohl die lächerlichste Stelle gesucht, während etwa ein Charles Bukowski gleich einmal in Gregors Hose hineingeblickt hätte, um festzustellen, dass Gregor trotz unruhiger Träume zum ersten Mal ohne Morgenlatte erwachte.



Die Dramatisierung im Pygmalion Theater
Am Erzählschnitt wird nichts geändert, wenn man ein literarisches Werk auf die Bühne stellt. Er wird lediglich in Handlungen umgesetzt. Das wiederum heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass die Absichten der Figuren über die Hindernisse, die ihnen im Wege stehen, sichtbar gemacht werden. In der Inszenierung des Pygmalion Theaters etwa wird zu diesem Zweck eine Dichotomie zwischen Erzähler und Gregor Samsa hergestellt, die über das Mirakel der Verwandlung antagonistische Positionen einnehmen. Aber, so müssen wir feststellen, nicht der Erzähler ist der eigentliche Feind Gregors... es ist vielmehr seine eigene Familie, deren Stimmen Gregor selbst produziert, so als ob - das wäre eine psychologische Deutung - diese fortwährend ihre verheerende Wirkung in Gregors Kopf fortsetzten. Selbstverständlich sehen wir keinen konkreten Käfer auf der Bühne. Es wäre unmöglich, diesen eingangs beschriebenen Tausendfüßler mit Menschenaugen auf die Bühne zu bringen, ja, es wäre kontraproduktiv. Gregor muss ja als Mensch gesehen werden, so wie der Gedankenstrom, dem wir in der Erzählung folgen, der eines Menschen ist. Nur dann wird die Formel "Schönheit + Mitgefühl" aufgehen.